Aktuelle Forschung 1

Die Beurteilung der Persönlichkeitsentwicklung bei Jungen Erwachsenen

Der vollständige Artikelt wurde 2021 in der Zeitschrift für Schweizerisches Recht publiziert:

Urwyler, T., Sidler, Ch. & Aebi, M. (2021). Massnahmen für junge Erwachsene nach Art. 61 StGB
Beurteilung der erheblich gestörten Persönlichkeitsentwicklung. Bibliothek zur Zeitschrift für Schweizerisches Recht,
Beiheft 57.

Zusammenfassung: Die empirische Befundlage legt nahe, dass sich ein gesteigerter Ressourceneinsatz und auf Behandlung ausgerichtete Interventionen bei jungen Erwachsenen mit erhöhtem Behandlungsbedarf langfristig lohnen. Für welche Personen dieser Sondereinsatz im Rahmen der Massnahme für junge Erwachsene erfolgen soll, ist jedoch herausfordernd zu beantworten. Vor gut einem halben Jahrhundert stellte SUTTINGER für die vergleichbare Problematik in Deutschland (§ 105 JGG) fest: «das Objekt unserer Betrachtung, die in die Maturität eintretende Persönlichkeit, in seiner speziellen Erscheinung nach biologischen Voraussetzungen, Volkstum, sozialer Schicht, kulturellem Raum, nach Bildung und Interessen so vielgestaltig, daß es nur schwer gelingt, gemeinsame Züge herauszuarbeiten ». Diese Aussage ist noch heute für den deutschen Rechtsraum zutreffend und auf die Schweiz übertragbar. Die Beurteilung der Persönlichkeitsentwicklung i.S.v. Art. 61 StGB erfolgt im Status Quo zwar mit prima vista plausiblen Kriterien, ist aber zu einzelfallbasiert und weist keine evidenzbasierte Dogmatik auf. Dieser Status erfordert eine Weiterentwicklung, denn die mit der strafrechtlichen Massnahme für junge Erwachsene einhergehenden Freiheitsentzüge und -beschränkungen erfordern bestmögliche Klarheit betreffend der Eingangsmerkmale.

 

Das hier vorgeschlagene Beurteilungsmodell mit seinen vier Dimensionen bildet den Querschnitt der bisherigen Operationalisierungsversuche ab und bietet damit der sachverständigen Person und den Strafbehörden Leitlinien bei der Beurteilung des charakteristischen Eingangsmerkmals von Art. 61 StGB. Trotz dem höheren Strukturierungsgrad und der konsequenteren Ausrichtung auf die verfügbare Evidenz wird dieses Modell kein Paradigmenwechsel hinsichtlich der Zuweisungspraxis für die Massnahme für junge Erwachsene auslösen. Schon heute wird vielen der genannten Gesichtspunkte bei der Begutachtung und juristischen Auslegung des Eingangskriteriums Rechnung getragen (siehe 3.). Der Mehrwert des vorliegenden Ansatzes besteht aber darin, ein regelgeleitetes Vorgehen mit evidenzorientiertem Fundament sicherzustellen. Freilich wird sich auch mit der Nutzung dieses Modells die Kritik der weiten Ermessensspielräume einstellen. Dem soll bereits jetzt entgegnet werden, dass erst diese Spielräume es ermöglichen, die interindividuell unterschiedlichen Entwicklungsstände und -pfade von jungen Erwachsenen adäquat zu berücksichtigen und in ihrer Relevanz zu gewichten. Divergenzen bei der
Beurteilung zwischen verschiedenen Beurteilern sind daher auch mit der hier erarbeiteten Lösung in gewissem Mass zu erwarten und konzeptionell vorgesehen. Allerdings erlaubt die hier vorgeschlagene Lösung eine Rückverfolgbarkeit der Teilkriterien (inkl. Evidenzgrundlagen, siehe 5. und 6.) und Beurteilungsstufen, aus welchen das Eingangsmerkmal der erheblichen Störung der Persönlichkeitsentwicklung hergeleitet wird. Damit wird das Vorgehen von Sachverständigen und Gericht transparent, nachvollziehbar und kritisierbar. Wenn durch die vorliegenden Ausführungen die Anordnungspraxis bei
Art. 61 StGB ein kleines Stück einheitlicher und damit rechtsgleicher (Art. 8 BV) gestaltet wird, ist das Ziel der Autoren erreicht. Gleichwohl gilt, dass der hier vertretene Ansatz «nur» den aktuellen Stand des Irrtums abbildet und durch neue Erkenntnisse umgestossen werden darf und muss. Die Autoren laden daher Forscherinnen und Forscher aus allen relevanten Disziplinen (Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, Sozialpädagogik, Rechtswissenschaft usw.) dazu ein, sachliche Kritik an den Vorschlägen zu üben und eine Weiterentwicklung oder Revision des Modells anzustossen, andere Modellvorschläge zu formulieren oder zusätzliche empirische Erkenntnisse zu Normalentwicklungen und Entwicklungsstörungen in der Adoleszenz zu schaffen. Nur so wird es möglich, die geeigneten jungen Erwachsenen der Massnahme für junge Erwachsene zuzuführen und damit einen Beitrag an die Verringerung von künftigen Straftaten und ein selbstbestimmtes Leben der verurteilten Straftäter im weiteren Erwachsenenleben zu leisten sowie umgekehrt unpassende Massnahmenzuweisungen und die damit potenziell einhergehenden illegitimen Freiheitsentzüge zu vermeiden.

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